archiv.07.2002
 

02.07.20.02:51:09
ögyr
Jeweils 44 Zeilen Jahreszeit

Herbst: Sein Name ist „Frauen und Kinder zuerst!“ Sein Name ist „Fliehendes Wild“, denn die Brunft ist vorüber, die Geweihe sind gekappt. Er wird kein Siebenender sein, geschweige Siebenmeilenstiefel, wankend zwischen seinen Bierpatronenhülsen. Er ist Siebenschläfer bis zur Posaune. Immer noch singt der Mond zwischen Wolken von seinem Untergang, von der Schule des Scheiterns.

Die School-Girlies im Zug knüllen die BILD von heute. Was für ein Schwachsinn, sagt eine. In Bordesholm steigen sie ein, in Kiel aus. Highheel-Engel auf großem Fuß und großer Fahrt. Ihre Haare wehen im Wind des übermütig aufgerissenen Fenster-Großmauls. Heute noch was losmachen, Hitze sein nach paar Drinks. Darf er euch einladen in das Biwak seiner Restlicht-Realplayer-Existenz? Er sieht zerschossen aus, erlegt und fragt nach der Gelegenheit. Und sie schauen ihn an wie den Rand des Infernos. Dann sagen sie Nein und falten kichernd die Zeitung als „Die Mauer muss fallen“ vor ihre Gesichter.

Winter: Wie auf dem Rückmarsch vom Pol, wo man die zur Neige gehenden Zündhölzer hütet und mehrfach sicher geht, dass sie in dem aufgewickelten Leinensäckchen auch ganz sicher trocken bleiben, rollt Jens das Schwarzer-Krauser-Päckchen wieder zusammen, nachdem er sich eine gedreht hat. Das schmale Ende der Gekurbelten steckt zwischen seinen nervösen Lippen, die gerade sehr lang geredet haben. Das breite Ende zündet er an, so dass der herausragende Tabak, der so zwirnig wie seine Haare ist, stichflammig aufglimmt und bei diesem ersten ernsten Zug den Gedanken an die Kerze weckt, die an zwei Enden so schnell verbrennt wie hier die aufs Voreilige hingedrehten Überlegungen.

Mal eben eine Medientheorie materialisiert im Absinth, gibt ein Wort das andere, verwechseln sich die Klinken, wo offene Türen zum Einrennen einladen. Marx am Stammtisch. Der Rauschbart des roten Knecht Ruprecht mit Jüngern an seiner Seite. Immer noch wie irr und süchtig daran werdend, an diesem Stoff der Diskurse. Christoph sieht vom Glas auf und gesteht, er müsse endlich mal wieder Politik machen.

Frühling: Auf der Einweihungsparty scanne ich den Buchbestand der Eingeweihten. Niko plötzlich hinter mir, als ich in „Tim und die Alphakunst“ blättere. Dass das Katjas Bände seien. Weil vollständiger. Seine Tim-und-Struppis lagerten nunmehr auf dem Dachboden. Ich denke: Die Schnittmenge ist auf dem Boden, unvollständig.

Weiter in den Büchern. Rolf Dieter Brinkmann, „westwärts 1&2“ bei Rowohlt. Gedichtabraum, „Anfall für alle“. Und hinter mir, dem vorn die Bücher stehen, sind die sehr schönen Frauen, die sehr schöne Freunde mit stylischen Koteletten und Gitarren haben. Das nichts anderes als Ich schaut durch die Fenster der Party auf die Straße. Darauf trägt ein Mann, dahinter seine Frau, ein schlafendes Kind in sein Häuschen.

Ich bin noch in ihrem Bauch. Dahinten, entdecke ich, wölbt ein Westermann-Globus den seinen. Erleuchtet. Marianengraben. Darüber hat Blixa Bargeld gedichtet. Wir sind alle Dichter. Die Blumenkinder-Schnittmenge, die Harald-Schmidt-Menge auf der schönsten Party bis zum ...

Sommer: Er sagt, er mache nie Urlaub. Nur ein bisschen. Über dem See kurbeln Libellen den Luftkampf. Er schaut auf den Horizont, den Bluescreen, vor dem sich sonnenverhangen der Blick auf sie projiziert. Sie schlummert, er hat vorgelesen, zu weit vielleicht in diesem Buch aus Friedefürst und „Fürchte dich nicht, ich bin bei dir“. Schlafende Frauen sind malerisch, ein Schönheitsrahmen, in dem das Bild noch erst mit Text gezeichnet werden will. Sie sagt, was er hinein schreiben könnte. Er notiert. Sie gehen baden, sind nackt und doch so schüchtern noch bekleidet vom Wasser.

Es gehen Wellen auf und ab an ihnen. Die Schule des Scheiterns hat heute Ferien. Die Zeugnisse sind längst geschrieben. Wer sitzen bleibt, ist auch entschieden. Und darum gehen sie jetzt in denselben Klassenkampf. Und in den Herbst, dann in den Winter, wo sie einander diese Hitze kühlen, bis der Frühling kommt mit Mai und dann der nächste Sommer.


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