archiv.01.2003
 

03.01.03.23:57:08
ögyr
von einem, der auszog 5

neues fenster zum hof (verschneit, verwaist, helle nacht)


03.01.04.00:51:19
ögyr
von einem, der auszog 6

altes fenster zum hof (rauch.zeichen, verrückte antenne, 09.dez.abseits.morgenrot)


03.01.20.02:29:58
ögyr
Und dann ist da Land's End

Über die Brücke und dann ist da plötzlich Land’s End. Hinter dem nicht fertig gewordenen Hochhaus, das seit Monaten auf Außengerippe macht, ist Niemandsland, lehmig, voller Pfützenkrater. Paar dutzend Meter nur, dann folgt wieder Schwarzdecke, provisorisch hingegossen, und die andere Brücke, die vom anderen Ende her ans Land’s End stößt. Ich setze über, das Rad an der Hand, durch Pfützen rudernd, irgendwie wie Charon, der über den Styx setzt. Und denke wie Orfeo, dass ich mich nicht umdrehen darf.

Die Treppe der anderen Brücke rauf, das Rad an der Hand wie einen schweren Siegelring, und es regnet. Die kalten Tropfen wie Schweiß auf der Stirn. Das Steak, noch blutig. Der Martini, gerührt und nicht geschüttelt – oder umgekehrt. Die Brücke Sonntagabend leer hinüber gereckt, beleuchtet vom rhythmischen Gleichmaß der Neonlampen am Geländer. Ich fahr’ da lang, das ist wie Film. Wie alles wie etwas anderes ist. Oben angekommen ist der andere Stadtteil, das Ostufer, die andere Welt, die Früher-Sache, wo ich täglich durchfuhr, schläfrig im Bus morgens hin und schläfrig abends wieder zurück. Aufs Ostufer, dorthin, wo die Stadt nicht mehr wirklich Stadt ist, sondern allenfalls Vorstadt. Wo die wohnen, für die die Stadt keine Wohnung hat. Wo ich hinfahre, als würde ich einen Ausflug machen.

Im Dönerladen ist noch Licht und das Lammfleisch riecht bis auf die Straße hinaus. Und das Bier. Ein Laden mit Mundgeruch. Auf dem kleinen Platz, der nicht als Platz geplant war, sondern der sich als Baulücke oder zu breit geratene Straßeneinmündung einfach ergeben hat, hocken drei Abgerissene mit Dosenpfand in der Hand. Hallo, sie prosten. Ich sage so Dinge wie „Guten Abend“.

Im Subrosa pfeift eine Rückkopplung. Die üblichen Verdächtigen. Der Bärtige, den sie „Pedell der Revolution“ nennen, der Mann fürs Grobe wie Verstärker, hastig gelötete Kabel, verdrillte Kabel, der Mann, der immer einen Schraubendreher, einen Phasenprüfer mit Voltmeter und Durchgangsprüfer und eine Abisolierzange in der Gesäßtasche hat. Es gibt immer etwas abzuisolieren, egal wo man gerade ist. Hinten sitzen die von dem linken Buchladen, die jetzt nicht mehr in dem linken Buchladen sind, weil jetzt in dem linken Buchladen jemand anderes in dem linken Buchladen ist. Vor der Leinwand, die gerade zusammengekracht ist und die jetzt oben mit einem halben Meter Tape geflickt wurde, hockt Karsten über einer Blechkiste, in der mal „Delacre“-Kekse waren, und wühlt in einem Legokasten aus Steckern. Wenn die Rückkopplung aussetzt, hört man leider auch sonst nichts mehr aus den Lautsprechern. Jemand bestellt Bier.

Der Film geht los. In das Notizbuch schreibe ich: „Garten der Lüste, unscharfe Rosen – Einzelbilder mit Schnittkante – The City of Light by Consolidated Edison – Krankenschwestern rollen Kranke in Rollstühlen durchs Bild – Doppelhelix über wunden Körpern/Köpfen (Decubitus) – Walking with crutches – Making movies is a lonely thing, you don’t participate – in die stabile Seitenlage bringen, Aufstehhilfe“. Der Film hört auf. Der Filmemacher erzählt folgende Geschichte: Er hat „found footage“ aus einem Lehrfilm über „medical anomalies“ verwendet. Der Film zeigt Dela Delane, die an Meningitis erkrankt ist und jetzt nicht mehr laufen kann. Im Internet hat jemand den Film gesehen. Es ist der Neffe von Dela Delane. Er teilt dem Filmemacher per Mail mit, dass der Film seine Tante zeigt, die vor wenigen Tagen gestorben ist. Er bittet den Filmemacher um eine Kopie des Films, weil darin seine verstorbene Tante auf Krücken zu sehen ist. Ein Erinnerungsstück. Der Filmemacher schickt ihm eine Kopie des Lehrfilms, in dem Dela Delane ein Beispiel ist, wie man Gehbehinderte krankenschwesterlich richtige Gehhilfe gibt.

Am Tresen sitzt Jens. Er liest „LinX“. Er regt sich darüber nicht auf. Wir lesen diese Zeitung immer noch. Wir regen uns nicht auf. Wir sollten vielmehr mal wieder zusammen einen trinken. Zu dritt mit Christoph im „HG“. Beschlusslage. Kleine Lage, grüner Tisch. Ich schlinge den Schal, in der Manteltasche die Handschuhe, ungeballt. Geradeaus raus, steckt mir der Künstler Ruboz noch einen Zettel zu, seine neueste Ausstellung, demnächst, Arbeitslosen-Ini. Flyer handschriftlich auf dem Zettel eines Tresenblocks mit Bierwerbung.

... jetzt nicht mehr laufen kann ...

Krücken, ein zerborstener Schirm, der kopfüber im Papierkorb steckt, die Gräten gespreizt. Toter Fisch. Über die Brücke und dann ist da das Niemandsland. Ich setze über. Wie Charon über den Styx. Und wie Orfeo drehe ich mich nicht um. Es ist alles immer wie etwas anderes. Hätte ich mich umgedreht, hätte ich, noch auf der Brücke, das Wasser unter mir in bewegten Bildern, entdeckt, dass mir Eurydike nicht folgt.


03.01.25.03:28:20
ögyr
eine liebeserklärung

du stürzt mich in diese ohnmacht gegenüber dir, weil du an der macht, die du über mich hast, nicht weniger leidest als ich an meiner ohnmacht. wenn du meinen mantel zerteilst, mir essig zu trinken gibst, dann nur, weil du selbst unbemantelt bist und fröstelst und dir die süße des weins sauer aufstößt. du willst nicht das ufer sein, an das mein strom mündet, du selbst willst der strom sein, der sein ufer sucht, der nicht mehr unbändig sein will und dem daher jeder duldende staudamm ein geliebtes hindernis ist. und ich, das ruhende ufer, an das deine wellen schlagen - nur so kann es sich als ufer fühlen, ertrinke an dir in jener unmäßigkeit, mit der du mich geißelst. mit der du mich streichelst. deine hiebe auf mich sind voller zärtlichkeit, überbordend, wenn ich über bord gehe.

was uns verbindet, ist die unfertigkeit, das nicht angekommen sein, das überhaupt nicht kommen, sondern das gehen. wir sind in bewegung, ruhelos aneinander ruhe suchende. und was wir ineinander nicht finden können, das ruht gegenseitig in uns. wir können uns aufeinander verlassen, als herrin und knecht, als knechtender und herrin. das band zwischen uns ist um uns und fester als es als dazwischen wäre, eine fessel, die wie rettungsreif scheint. symmetrie. und in der tat halten wir uns so über wasser und aneinander fest. wir sinken ja nicht, wenn wir nicht in uns fallen, einander nur rituell in die arme, doch nicht wirklich. vor dem fallen haben wir beide eine so schreckliche angst, dass wir permanent fallen, einander ins wort, uns in den arm, wenn du das schwert führst, das auf mich nieder saust, und ich die scheide bin, die es aufnimmt und stumpf macht.

unsere liebe ist so seltsam, weil sie wie hass scheint. und es ist fraglich, welches das stärkere gefühl ist. liebten wir uns, wie sich liebende lieben, die leiber einander hingegeben und nicht nur die erstickten seelen, wäre unsere liebe vermutlich vorbei. aber wir können nicht vorbei sein und so nicht voneinander lassen, dein hass nicht von meiner liebe zu dir, und deine liebe nicht von meinem nicht-hass.

ich sehe deine augen, die leuchtspurmunition darin, das beständige feuern, das rühr-mich-nicht-an. du siehst meinen blick und das rührt dich. wir spiegeln uns. um und um drehen wir an dem kompasskreisel. nord-süd. die pole. unser kurs ist nicht hafen, wir sind geschöpfe des offenen meeres. und wenn ich es sage, dies ich-liebe-dich, sagst gerade du es nicht. und das ist deine liebenswerteste liebeserklärung an mich.


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